Weltweit leiden 13 Prozent der Bevölkerung an Migräne. In Tirol sind rund 100.000 betroffen. Assoz.-Prof. Priv.-Doz. Dr. Gregor Brössner leitet seit 2007 die Kopfschmerzambulanz an der Innsbrucker Univ.-Klinik für Neurologie. Der ehemalige Präsident der Österreichischen Kopfschmerzgesellschaft erzählt in einem Interview über seine Erfahrungen mit dieser Erkrankung, neue Methoden und den aktuellen Stand der Forschung.

 

Gregor Brössner, Oberarzt an der Innsbrucker Univ.-Klinik für Neurologie

Was ist Ihr persönlicher Zugang zu dieser Erkrankung?

Seit meiner Jungend bin ich selbst Migränepatient – ich glaube, das gibt mir nochmals einen anderen Zugang zu meinen Patientinnen und Patienten. Migräne ist real und belastend. Man muss weg von dieser veralteten und vor allem völlig falschen Denkhaltung, dass nur hysterische Frauen daran leiden. Wir reden hier schließlich von einer Volkskrankheit: Weltweit erleiden 90 Millionen Menschen, quer durch alle Altersschichten hinweg, täglich eine Migräneattacke. Unser jüngster Patient ist 2 Jahre, die älteste Patientin 89 Jahre. Viele von ihnen begleitet diese ernstzunehmende neurologische Erkrankung ein Leben lang. Es ist wichtig, dass man offen damit umgeht, sich Unterstützung holt und eine Diagnose erhält. Hier setzen wir an der Klinik an. Wir versuchen diese Symptome, diese Erkrankung so erleidbar wie möglich zu machen und im besten Fall deutlich zu verbessern.

 

Was passiert bei einer Attacke im Kopf?

Wir wissen, dass dieser neurologischen Erkrankung eine neurobiologische Grundlage zu Fuße liegt. Es gibt einen Bereich im Gehirn, den sogenannten Hirnstamm. Dort sitzen bestimmte Zentren – Nervenzellverbände – die das Gesicht versorgen, Schmerzen empfangen und diese verarbeiten. Und genau diese Bereiche haben eine Art Generatorfunktion für Migräne und andere Kopfschmerzerkrankungen. Das ist vergleichbar mit einem kleinen Spielzeugauto, das man aufzieht und irgendwann loslässt. Wir verstehen heute unter Migräne viel mehr als eine reine Kopfschmerzerkrankung. Patienten fühlen die Phasen davor und auch danach anders. Das Gehirn funktioniert während eines Anfalls anders. Man kann diese Areale im Gehirn mit neuen Methoden gut darstellen und gezielt therapeutisch behandeln.

Ein Fünftel der Migränepatienten hat zusätzlich eine Aura-Symptomatik. Diese Patienten haben meistens vor dem Ausbruch neurologische Ausfälle. Da reden wir von Lichtblitzen, Flimmern, schwarze Punkte die größer werden bis hin zu Kribbeln in den Händen und im Extremfall von Lähmungserscheinungen, Sprachstörungen oder Sprachverlust. In der Regel klingen diese Symptome nach etwa 60 Minuten wieder ab und dann kommen die Schmerzen. Wir wissen, dass dies mit einer Erregungswelle zu tun hat, die über das Gehirn hinwegläuft und diese neurologischen Ausfälle verursacht.

Das Schmerznetzwerk im Gehirn ist ganz eng verknüpft mit jenen Bereichen, die unsere Körperfunktionen regulieren. Vorab kann es zu Heißhungerattacken kommen, die Verdauung funktioniert anders oder es treten Durchfall, Übelkeit und Erbrechen auf. Hier reden wir von autonomen Mitbegleiterscheinungen.

 

Was ist der Unterschied zwischen Migräne und dem allgemein bekannten Kopfschmerz?

Migräne ist nur eine von etwa 200 unterschiedlichen Kopfschmerzarten. Sie ist eine ganz klar umschriebene Diagnose, die nur im Gespräch mit dem Patienten diagnostiziert wird. Denn er trägt substanziell zur Diagnosestellung bei. Die Diagnose bei Migräne heißt, ich habe einen Kopfschmerz, der immer wieder kommt, der unbehandelt zwischen vier und 72 Stunden anhält und meistens einseitig und mit einem pochenden Charakter auftritt. Bewegt man sich in dieser Phase, verstärkt sich der Kopfschmerz, dazu kommen meistens auch Übelkeit und Erbrechen. Wenn all diese Kriterien erfüllt sind, kann man klar von einer Migräne reden. Generell ist es so, dass jeder wiederkehrende, belastende Kopfschmerz, egal in welchem Alter, unbedingt abgeklärt werden sollte.

Patienten mit chronischer Migräne leiden oft mehr als die Hälfte des Monats an einer Attacke. Sie sind arbeitsunfähig, müde, orientierungslos oder haben Konzentrationsschwächen. Je heftiger diese Attacken sind, desto wichtiger ist es ein gutes Umfeld aufzubauen. Das Verständnis vom Partner, Angehörigen aber auch am Arbeitsplatz ist hier wesentlich.

 

Was können Auslöser sein?

Forschergruppen weltweit haben versucht handfeste Auslöser in Studien herauszulesen. Das ist nur für wenige Lebensmittel wie z. B. Alkohol geglückt. Manche Patienten reagieren aber auf Glutamat – das sogenannte Chinarestaurantsyndrom – oder Nitrate wie z. B. Pökelsalze auch als Hotdog-Headache bekannt. Hunger kann auch ein Auslöser sein. Daher empfehle ich gerade Kindern über den Tag verteilt viele kleinere Portionen zu essen.

Trotz intensiver Bemühungen konnte noch nicht nachgewiesen werden, dass es einen Zusammenhang zwischen Föhn und dem Auftreten von Migräneattacken gibt. Das heißt aber nicht, dass es diesen Zusammenhang nicht gibt. Bei Wetterphänomen wie Wind oder Schnee spielen so viele Parameter hinein, dass es wissenschaftlich sehr schwierig ist aussagekräftige Beweise zu erhalten.

 

Betrifft Migräne mehr Frauen oder Männer?

Global gesprochen sind mehr Frauen betroffen. Aber grundsätzlich hängt es mit dem Alter zusammen: Vor der Pubertät ist die Verteilung in etwa gleich. Ab dem 20. bis etwas zum 40. Lebensjahr sind Frauen dreimal häufiger betroffen als Männer. Das wird verursacht durch Hormone, z. B. vom weiblichen Zyklus, dem Ansteigen und Abfallen von Östrogen. Häufig gehen die Attacken in den Wechseljahren zurück, das lässt sich auch während einer Schwangerschaft und beim Stillen beobachten.

 

Haben auch Kinder Migräne?

In der Literatur ist beschrieben, dass bei Kindern ab dem 2. Lebensjahr Migränefälle auftreten. Diese werden von den jungen Patienten jedoch anders geschildert: Sie erzählen von kürzeren Schmerzphasen, viele können den Kopf auch nicht als Schmerzquelle lokalisieren, sondern beziehen es auf Bauchschmerzen. Wiederkehrende Bauchschmerzen, für die man keine Ursachen findet, aber auch Erbrechen sind häufig ein Migränevorläufer.

 

Ist Migräne genetisch bedingt?

Migräne kann vererbt werden. Bei einer sehr seltenen Form von Migräne, bei der Patienten halbseitig gelähmt sind, konnten bereits fünf Gendefekte beschrieben werden. Für die allgemeine Migräne gibt es diese Gendefekte noch nicht, jedoch beschäftigen sich schon einige Forschergruppen mit dieser Thematik. Derzeit geht man davon aus, dass sie durch unterschiedliche genetische Zusammensetzungen bedingt wird. Ich kann mir aber gut vorstellen, dass wir in den nächsten Jahren bzw. Jahrzehnten eine Gentherapie haben und dann auch von einer Heilung sprechen können.

 

Ist es gut, ein Migräne-Tagebuch zu führen?

Auf jeden Fall. Mittlerweile gibt es unterschiedliche Möglichkeiten: Von der Papierform bis zur App – Patienten können in einem Kalender Häufigkeit und Symptome über Monate hinweg dokumentieren. Wie lange dauert die Erkrankung, wo ist der Kopfschmerz, was verschlimmert ihn? Was macht ihn besser? Gibt es Begleiterscheinungen wie Übelkeit oder Erbrechen? Es geht darum, ein möglichst breites Bild der Erkrankung zu erhalten. All diese Informationen helfen uns Medizinern bei der Diagnosestellung.

 

Wie sollte man mit Schmerzmitteln umgehen?

Hier ist Bedacht angesagt, denn Schmerzmittel können bei zu hoher Menge selbst zum Problem werden. Man weiß heute, dass jedes Schmerzmittel Abhängigkeit auslösen können. Nimmt man Medikamente an mehr als zehn bis 15 Tagen im Monat ein, kann es den unangenehmen Nebeneffekt haben, dass auch der Kopfschmerz wieder mehr wird. Der Patient gerät dadurch in einen sogenannten Teufelskreis. Hier ist es wichtig, gemeinsam mit dem Patienten individuell Grenzen festzulegen. Oft hilft gute Aufklärung oder eine kleinere Packungsgröße, mit der er dann eine gewisse Zeit auskommen muss.

 

Mit neuen Therapien ist man bereits auf einem guten Weg, ist Migräne irgendwann heilbar?

Wir haben an der Klinik Innsbruck den Vorteil, dass wir nicht nur Versorgungsmedizin leisten, sondern auch wissenschaftliche Entwicklungen im Bereich Kopfschmerz vorantreiben. Der Eiweißstoff CGRP im Gehirn spielt bei der Migräne eine wichtige Rolle. Seit etwa acht Jahren gibt es Substanzen, die diesen Eiweißstoff blockieren und dadurch die Häufigkeit der Attacken senken. Hier haben wir von Anfang an mitgeforscht und sind an der Entwicklung dieser Therapie beteiligt. Der Patient erhält einmal pro Monat diese „Therapiespritze“. Sie zielt darauf ab, die Frequenz zu reduzieren und meistens sind auch die kommenden Attacken weniger stark. Bei 50 bis 60 Prozent der Patienten zeigt diese Behandlung eine gute Wirkung. Von Wirksamkeit reden wir dann, wenn das Auftreten der Attacken um die Hälfte sinkt. Diese Antikörpertherapie ist noch kein Allheilmittel, aber bei ausgewählten Patienten ist es ein Durchbruch und für viele eine merkliche Verbesserung der Lebensqualität.

Bilder: Titelbild (Fotolia), Portrait (MUI/Vandory), weitere Bilder (pixabay)