Unendliche Weiten. Auf die trifft nicht nur das Raumschiff Enterprise auf seiner Reise durch den Weltraum, auch das menschliche Gehirn hat für Wissenschaftler noch viel unerforschtes Terrain aufzubieten. Wozu die grauen Zellen in unseren Hirnwindungen fähig sind, fasziniert, überrascht, erstaunt. Auch wenn viele Fragen noch unbeantwortet sind, machen Medizin und Forschung stetig Fortschritte. Davon profitieren natürlich auch die Patientinnen und Patienten. Zum Beispiel durch präzisere Eingriffe oder kürzere Operationen.
Von der Physik zur Erforschung der Hirnentwicklung
Jemand, der sich intensiv mit dem menschlichen Gehirn beschäftigt, ist Physiker Wolfgang Recheis von der Abteilung für experimentelle Radiologie an der Universitätsklinik Innsbruck. Wie kommt nun ein Physiker zur Hirnforschung? In diesem Fall ein wenig wie die sprichwörtliche Jungfrau zum Kind. „Das ist mir passiert“, erzählt er. Ganz konkret hat das mit dem Ötzi zu tun. Jener Gletschermumie aus der Jungsteinzeit, die im Jahr 1991 in den Ötztaler Alpen in Südtirol gefunden worden war.
Ötzi und Gregor Baci: Populären Fällen auf der Spur
Das kam so: Anfang der 1990er-Jahre wurden in der Radiologie gerade einige neue Methoden entwickelt und vorangetrieben. Erste 3D-Datensätze wurden erstellt und Modelle angefertigt. Die Universitätsklinik Innsbruck wendet dieses Verfahren seit dem Jahr 1993 an. „Der Ötzi-Datensatz fungierte als Eisbrecher. Gebaut wurde dieser damals beim Autohersteller BMW und hat rund 10.000 Euro gekostet“, erinnert sich Recheis, der dies einige Jahre später in seiner Promotion wissenschaftlich aufgearbeitet hat. Ein Fall, den Wissenschaftler mit „CSI-Methoden“ untersuchen und der noch längst nicht abgeschlossen ist.
Einem weiteren populären Fall haben sich die Innsbrucker Wissenschaftler ebenfalls angenommen. Nämlich jenem von Gregor Baci, einem Edelmann aus dem 16. Jahrhundert. Nachdem eine Lanze seinen Kopf durchbohrt hatte, soll er noch über ein Jahr überlebt haben. Ein Gemälde dieser schaurigen Geschichte ist im Innsbrucker Schloss Ambras zu bewundern. „Wir konnten über ein 3D-Modell nachweisen, dass dies tatsächlich möglich wäre“, schildert Recheis.
Standard bei Operationsplanung von komplexen Eingriffen
Heute ist das Verfahren an der Klinik Standard. Jährlich werden in Innsbruck rund 100 Modelle angefertigt. Daten aus dem Computertomografen bilden die Grundlage. Daraus entsteht mittels 3D-Drucker das Modell. Insbesondere in der Kiefer- und Neurochirurgie wird so bei komplexen Eingriffen die Operationszeit deutlich verkürzt. Das kann beispielsweise nach Sportverletzungen, wenn bei Hirnschwellungen die Schädeldecke geöffnet werden muss oder nach Krebserkrankungen der Fall sein, wenn Knochen rekonstruiert oder Implantate angefertigt werden müssen. Vorbereitung und Planung werden damit also einfacher und exakter.
Aber zurück zum menschlichen Gehirn. Über den Ötzi kam Wolfgang Recheis zur Erforschung der Hirnentwicklung und hat sich so im Fach Anthropologie, der Wissenschaft vom Menschen, habilitiert. Offen sein für das, was kommt, das legt Recheis daher auch seinen Studierenden ans Herz, wenn es darum geht, die berufliche Zukunft zu planen. „Wenn man flexibel bei der Jobsuche ist, findet man seinen Platz.“
Das „Menschsein“ sitzt im Frontallappen
Was ist es nun, was den Menschen menschlich macht? Es ist die Intelligenz, das komplexe Denkvermögen, ganz wesentlich aber die Fähigkeit zur sozialen Interaktion und Empathie. Diese Bereiche sind im Frontalhirn, also im Bereich über den Augen angesiedelt. Es sind Eigenschaften, die bei unseren Vorfahren nur schwach ausgeprägt waren. Aber dazu später mehr. Neben den Menschenaffen zählen Delphine, Ratten und Raben zu den intelligentesten Tieren. Das Volumen des Gehirns spielt dabei eine zentrale Rolle. „Der Spruch, dass man das Denken den Pferden überlassen soll, weil diese den größeren Kopf haben, kommt nicht von ungefähr“, schmunzelt Recheis. Allerdings, so ergänzt er, zählt nicht die tatsächliche Größe, sondern das Verhältnis des Hirnvolumens zur Körpergröße. Was das angeht ist eben der Mensch am weitesten entwickelt.
Europäer mit Neandertaler-Genen
Das führt uns weiter zu einer spannenden wissenschaftlichen Frage, die Recheis sehr beschäftigt: Warum nämlich der Neandertaler ausgestorben ist, obwohl sein Gehirn deutlich größer war, als das des Homo Sapiens (also des heutigen Menschen). Eine klare Antwort gibt es darauf (noch) nicht. Nachweisen lässt sich allerdings, dass der europäische Mensch einen kleinen Prozentanteil von Neandertaler-Genen aufweist. Die Vorfahren des modernen Menschen entwickelten sich in Afrika in der Gegend des heutigen Äthiopien und Kenia. Klimatische Veränderungen mögen dafür ausschlaggebend gewesen sein, dass unsere Vorfahren von den Bäumen stiegen und in die Steppe zogen. Dort entwickelte sich der aufrechte Gang, um Feinde möglichst rasch erkennen zu können. Die Hände wurden frei, die Menschen lernten Werkzeuge zu benützen und Feuer zu machen.
Das hat die Entwicklung wohl nochmals entscheidend vorangebracht. Dass die Menschen heute immer noch vom Kochen am offenen Feuer fasziniert sind und gerne grillen, dürfte also auch genetisch bedingt sein. Über dem Feuer ließ sich nämlich das Fleisch zubereiten. „Damit war die Vorverdauung erledigt. Die kräftigen Kiefer wurden nicht mehr benötigt und bildeten sich zurück. Gleiches gilt für die ausgeprägte Kaumuskulatur“, schildert Recheis.
Weniger Muskeln, mehr Gehirn
Diese Muskulatur setzte am Schädelkamm an und durch ihren Wegfall blieb mehr Platz fürs Gehirn. Und zwar war es gerade der Frontallappen, der sich so stärker ausbilden konnte. Ganz entscheidend für unser Menschsein, wie wir schon erfahren haben. Unfälle oder Erkrankungen, die den Frontallappen betreffen, haben daher oft Einfluss auf die Persönlichkeit, die sich sogar grundlegend verändern kann. Bezeichnet wird das als „frontale Enthemmung“. Aggressivität, die Nichtbeachtung sozialer Konventionen, mangelndes Taktgefühl, übermäßiger Sexualtrieb oder Suchtverhalten können die Folge sein.
Mehr Lebensqualität durch Messung aktiver Hirnregionen
Um bei Eingriffen möglichst keine Regionen des Gehirns zu beeinträchtigen, die für Sprache oder Motorik zuständig sind, können vorab Tests mittels funktionaler Magnetresonanztomografie (fMRI) durchgeführt werden. Den Patienten wird beispielsweise eine motorische Aufgabe gegeben und die fMRI zeigt an, welche Hirnregionen dabei aktiv sind. Damit kann eine geplante Operation im Idealfall entsprechend angepasst und die Lebensqualität entscheidend verbessert werden. Aktuell arbeitet die Abteilung für experimentelle Radiologie an der Quantifizierung von Krankheiten auf der Grundlage von radiologischen Daten. Außerdem wird die Entwicklung des Micro-CT vorangetrieben. Dadurch wird es möglich, während einer Operation Tumore sichtbar zu machen, Wartezeiten erübrigen sich und die OP-Qualität wird verbessert.